Gegen „Chat Control“ – Für ein freies, sicheres und privates Internet

Die Europäische Union arbeitet derzeit an einem Gesetzesentwurf zur sogenannten „Child Sexual Abuse Regulation“ (CSAR) – im öffentlichen Diskurs häufig als „Chat Control“ bezeichnet.
Offiziell verfolgt der Entwurf das Ziel, die Verbreitung von Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern im Internet besser zu bekämpfen. Doch die vorgeschlagenen Mittel – insbesondere die Einführung von Client-Side-Scanning (CSS) – bedrohen in ihrer Konsequenz die Privatsphäre aller Bürger, die Sicherheit digitaler Kommunikation und die Vertraulichkeit verschlüsselter Dienste.

Dieser Artikel erläutert, warum die geplanten Massnahmen unverhältnismässig sind, welche Risiken sie bergen und warum der Schutz von Kindern nicht durch Überwachung, sondern durch gezielte, rechtsstaatliche Mittel erreicht werden muss.

1. Was bedeutet „Chat Control“?

Unter dem Begriff „Chat Control“ versteht man im Kern einen Mechanismus, der digitale Kommunikation – etwa Nachrichten, Fotos oder Videos – auf potenziell illegale Inhalte überprüft, bevor sie überhaupt gesendet oder empfangen werden.

Technisch geschieht das über Client-Side-Scanning: Software auf dem Endgerät des Nutzers durchsucht private Nachrichten, Bilder und Dateien nach bestimmten Mustern oder Hashwerten, die auf bekanntes Missbrauchsmaterial hinweisen könnten.

Das bedeutet: jede Nachricht, jedes Foto, jede Sprachdatei könnte künftig vor der Verschlüsselung auf illegale Inhalte gescannt werden – selbst in privaten Chats, die bislang als Ende-zu-Ende-verschlüsselt galten.

Was als Massnahme gegen Kindesmissbrauch präsentiert wird, würde de facto eine flächendeckende, anlasslose Massenüberwachung privater Kommunikation etablieren.

2. Der Konflikt: Schutz von Kindern vs. Schutz der Privatsphäre

Niemand bestreitet, dass der Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt höchste Priorität haben muss.
Doch eine Massnahme darf nicht unverhältnismässig sein.

Das vorgeschlagene System berührt mehrere fundamentale Rechte:

  • Das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 7 EU-Grundrechtecharta)
  • Das Recht auf Schutz personenbezogener Daten (Artikel 8)
  • Die Kommunikationsfreiheit und Pressefreiheit (Artikel 11)

Eine anlasslose Durchsuchung privater Kommunikation stellt einen tiefgreifenden Eingriff in diese Rechte dar. Die EU-Gerichtsbarkeit hat bereits in früheren Urteilen entschieden, dass pauschale Vorratsdatenspeicherung gegen das Grundgesetz verstösst. Die geplante Chat-Kontrolle würde dieses Prinzip noch weiter verschärfen.

3. Warum Client-Side-Scanning problematisch ist

a) Technische Risiken

Client-Side-Scanning bricht mit einem zentralen Prinzip digitaler Sicherheit:
Nur Sender und Empfänger dürfen den Klartext einer Nachricht lesen können.

Wenn Nachrichten bereits auf dem Gerät gescannt werden, bevor sie verschlüsselt werden, bedeutet das, dass Programme oder Dienste auf sensible Inhalte zugreifen müssen. Dadurch entstehen:

  • Neue Angriffsvektoren: Schadsoftware oder staatliche Akteure könnten die Scantechnologie zweckentfremden.
  • Fehlalarme (False Positives): KI-Modelle und Hashdatenbanken können harmlose Inhalte irrtümlich als verdächtig kennzeichnen.
  • Manipulationspotenzial: Ein einmal eingerichtetes Scansystem kann leicht erweitert werden – etwa zur Suche nach politisch unerwünschten Inhalten.

Kurz gesagt: Wer eine Hintertür für den „guten Zweck“ öffnet, schafft einen dauerhaften Zugang für Missbrauch.

b) Gesellschaftliche Risiken

Ein System, das alle Bürger unter Generalverdacht stellt, untergräbt das Vertrauen in digitale Kommunikation.
Journalisten, Aktivisten, Anwälte und Ärzte wären besonders gefährdet, da sie auf vertrauliche Kommunikation angewiesen sind.

Darüber hinaus könnte die Akzeptanz von Verschlüsselung insgesamt schwinden – mit langfristigen Folgen für Cybersicherheit, Innovation und Meinungsfreiheit.

4. Folgen für Wirtschaft und digitale Souveränität

Europa hat sich in den letzten Jahren als Vorreiter im Datenschutz positioniert – etwa durch die DSGVO.
Eine gesetzlich verordnete Überwachung würde dieses Vertrauen massiv beschädigen.

Gerade kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die sichere Kommunikationsdienste anbieten, stünden vor einem Dilemma:
Entweder sie implementieren teure und unsichere Scansysteme – oder sie riskieren, ihre Dienste nicht mehr legal anbieten zu dürfen.

Das Ergebnis wäre eine Schwächung europäischer Datenschutzanbieter und eine Stärkung aussereuropäischer Plattformen, die oft geringeren Datenschutzstandards unterliegen. Damit würde die EU ihre digitale Souveränität selbst untergraben.

5. Rechtliche Bedenken und Grundrechtsabwägung

Mehrere unabhängige Rechtsgutachten haben darauf hingewiesen, dass die verpflichtende Einführung von Client-Side-Scanning verfassungsrechtlich bedenklich ist.
Die EU-Grundrechtecharta und der Europäische Gerichtshof (EuGH) betonen, dass Überwachungsmassnahmen notwendig, verhältnismässig und zielgerichtet sein müssen.

Eine anlasslose Durchsuchung aller Kommunikationsvorgänge erfüllt keine dieser Bedingungen.

Darüber hinaus wäre es aus datenschutzrechtlicher Sicht fraglich, wie eine solche Massnahme mit der DSGVO vereinbar sein soll.
Die Verarbeitung privater Inhalte ohne Einwilligung oder konkreten Verdacht widerspricht dem Grundsatz der Datenminimierung und Zweckbindung.

6. Das Argument der „Verhältnismässigkeit“

Das politische Ziel – der Schutz von Kindern – ist unbestritten.
Doch eine Massnahme, die das Risiko des Missbrauchs für alle erhöht, kann nicht verhältnismässig sein.

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) erlaubt Eingriffe in die Privatsphäre nur dann, wenn sie

  • einem legitimen Ziel dienen,
  • in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind und
  • nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist.

Das geplante Gesetz würde diese Grenzen überschreiten, weil es flächendeckend alle betrifft – auch ohne Verdacht, Anlass oder Bezug zu Straftaten.

7. Technisch bessere Alternativen

Statt auf Überwachung privater Chats zu setzen, sollte die EU folgende Ansätze fördern:

  1. Stärkung spezialisierter Ermittlungsbehörden, um bestehende Netzwerke des Kindesmissbrauchs gezielt zu bekämpfen.
  2. Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit und Rechtsdurchsetzung gegen Täter und Plattformen, die Missbrauchsmaterial hosten oder verbreiten.
  3. Aufklärung und Prävention, zum Beispiel durch digitale Bildung und Schutzmassnahmen für Kinder.
  4. Förderung sicherer Technologien, die Datenschutz und Missbrauchsprävention vereinen, etwa durch kontrollierte Meldeverfahren bei tatsächlichem Verdacht – statt flächendeckender Scans.

Diese Massnahmen sind wirksam, rechtssicher und stärken das Vertrauen in die digitale Infrastruktur.

8. Gefahr der schleichenden Ausweitung („Mission Creep“)

Einmal eingeführte Überwachungstechnologien neigen dazu, ihren Anwendungsbereich schrittweise zu erweitern.
Was heute zur Bekämpfung von Missbrauch dient, kann morgen zur Erkennung von Urheberrechtsverletzungen, „Fake News“ oder politisch unerwünschten Inhalten genutzt werden.

Diese Gefahr ist real – und in der Geschichte der Überwachungstechnologien immer wieder eingetreten.
Die Einführung von Chat Control wäre ein gefährlicher Präzedenzfall für zukünftige Einschränkungen digitaler Freiheitsrechte.

9. Die Rolle der Zivilgesellschaft

Datenschutzorganisationen, Juristen, IT-Sicherheitsforscher und Bürgerrechtsgruppen haben bereits zahlreiche Stellungnahmen veröffentlicht, die auf die Risiken von Chat Control hinweisen.

Ihre zentrale Botschaft: Sicherheit und Freiheit sind keine Gegensätze.
Eine sichere Gesellschaft braucht beides – Schutz vor Kriminalität und Schutz vor Überwachung.

Die Aufgabe der Zivilgesellschaft ist es jetzt, diese Botschaft laut und verständlich zu wiederholen.
Nur durch öffentlichen Druck kann verhindert werden, dass eine gut gemeinte Initiative zu einem gefährlichen Überwachungsinstrument wird.

10. Aufruf zum Handeln

Die politische Debatte ist noch nicht entschieden!
Deshalb ist jetzt der Zeitpunkt, aktiv zu werden:

  • Kontaktieren Sie Abgeordnete des Europäischen Parlaments und fordern Sie, den aktuellen Entwurf abzulehnen.
  • Unterstützen Sie Organisationen, die sich für digitale Grundrechte einsetzen – etwa European Digital Rights (EDRi), Digitalcourage oder die Electronic Frontier Foundation (EFF).
  • Informieren Sie andere, indem Sie Beiträge teilen, Diskussionen führen und an Aufklärungsaktionen teilnehmen.

Jede Stimme zählt – und jede informierte Entscheidung kann einen Unterschied machen.


Die geplante Chat Control ist ein massiver Eingriff in die Grundrechte und in die technische Integrität des Internets.
Sie stellt alle unter Generalverdacht, schwächt die Verschlüsselung, schafft Sicherheitsrisiken und droht, Europas Vorbildrolle im Datenschutz zu zerstören.

Kinder zu schützen ist ein Ziel, das unbestritten Unterstützung verdient – aber nicht um den Preis der Freiheit und Privatsphäre aller.
Ein demokratisches Europa braucht Lösungen, die beides ermöglichen: Sicherheit und Datenschutz.


Kein Gesetz, das Massenüberwachung legitimiert, kann Freiheit garantieren.
Wer Privatsphäre opfert, verliert am Ende beides – Sicherheit und Vertrauen.


Wie stehen die EU-Länder zum EU-Gesetzesvorschlag zur Chatkontrolle?
fightchatcontrol.eu